wankelmut tut auch mal gut

03.04.18 - verfasst von Stephie

Eigentlich möchten wir unsere Reiseberichte nicht nach Staatsgrenzen richten und doch hat es sich eingeschlichen, dass wir erst zum Verlassen eines Landes zur Feder greifen. Dabei wollen wir nicht über das bereiste Land an sich, sondern lediglich über unsere Erlebnisse Resümee ziehen. Für unsere Zeit in der Türkei fällt uns das nicht ganz einfach. Manchmal sind wir hin- und hergerissen, im einen Moment entzückt, im anderen verblüfft oder gar ernüchtert. Die aufgewühlte politische Stimmung im Land spaltet nicht nur die türkische Gesellschaft, sondern auch unsere Eindrücke; ein weiterer Grund, weshalb wir uns mit der Veröffentlichung dieses Artikels vorsichtshalber bis zur Ausreise Zeit gelassen haben. 

Teepause beim Trampen
Teepause beim Trampen

Wenn wir uns die Welt auch in erster Linie nicht in politischen Räumen vorstellen möchten, so zeigen sich bei unseren letzten Grenzübergängen doch erhebliche, vor allem kulturelle Unterschiede. So wie wir uns im Herbst letzten Jahres von Albanien nach Griechenland einen Schritt zurück versetzt gefühlt hatten, so wurde mit der Weiterreise in die Türkei Mitte Januar unser Reisestil wieder tauglicher. Unser Gefühlsbarometer bezieht sich zunächst gerne auf das Trampen. Selten warten wir länger als zehn Minuten auf ein Fahrzeug, das uns mitnimmt. Selbst in Städten sind wir mit ausgestreckten Daumen nicht so deplatziert, wie das ansonsten in den Monaten zuvor gerne mal der Fall war. Eher werden wir obendrein häufig auf einen Tee oder ähnliches eingeladen. Die vielen warmherzigen Begegnungen erfreuen unsere Gemüter und tragen dazu bei, dass wir die Zeit hier in positiver Erinnerung behalten werden. Gleichzeitig bin ich aber auch erleichtert, besonders aus weiblicher Perspektive, das Land nach knapp drei Monaten nun wieder zu verlassen. Die Erfahrung lehrt uns beispielsweise, dass es manchmal angenehmer sein kann, sich fremden Männern gegenüber als verheiratet auszugeben. In wenigen Fällen, bei welchen man uns unsere Behauptung nicht abnimmt, finden wir uns in unangenehmen Buhlereien oder gar regelrechten Verhandlungen wieder. Zwar hatten wir zuvor auf hitchwiki, einem Infoportal für Tramper, bereits von solchen Vorkommnissen in der Türkei gelesen und uns auch die dort beschriebenen Verhaltensempfehlungen, etwa als Frau den Beifahrersitz zu meiden, stets zu Herzen genommen, doch hätte ich es nicht für wahrscheinlich gehalten, dass uns tatsächlich solch unangenehme Situationen widerfahren. Hierzu schreibt Simon in sein Tagebuch: „Selbst, wenn es nicht zu derart drastischen Vorfällen kommt, ist die Kommunikation zwischen türkischen Männern und Stephie nicht selten von altmodischen Verhaltensmustern geprägt, sodass Stephie, als Frau, einfach nicht als ebenbürtige Gesprächspartnerin respektiert wird. Stellt sie eine banale Smalltalkfrage, muss ich diese manchmal wiederholen, damit wir eine Antwort bekommen. Winkt man das jetzt als kulturellen Unterschied ab, welchen wir als Gäste im Land zu respektieren haben, oder ist es in diesem Moment wichtiger, für die eigenen Wertevorstellungen einzutreten? Es ist ein Balanceakt.“

Ein weiterer Grund dafür, dass wir der Türkei nicht vollends nachtrauern, ist die bereits erwähnte sensible politische Stimmung des Landes. Der Staat hat in den letzten 15 Jahren immens in Industrie, Handel und Infrastruktur investiert und somit in kürzester Zeit einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt (auch wenn dieser aktuell wieder deutlich stagniert). Dass bei so viel scheinbar gutem politischem Willen eine nationale Gesinnung populär wird, ist stückweise nachvollziehbar. Es entsteht ein Patriotismus, welcher von konservativen religiösen Werten Gebrauch macht und sich unterschwellig immer weiter in der türkischen Gesellschaft ausbreitet. Heftigen Gegenwind bekommt dieser Trend allerdings von einem sicherlich mindestens genauso großen Anteil der Bevölkerung. Auf unserer Route treffen wir oft auf kritisch Denkende, was zum Einen an den Workaway-Projekten liegt, bei denen wir aushelfen und wo man tendenziell sehr weltlichen Menschen begegnet, und zum Anderen daran, dass die Regionen, welche wir bereisen, häufig Tourismus relevante Gegenden sind, sprich solche, in denen die Leute von den politischen Entwicklungen der letzten Jahre wegen ausbleibender internationaler Gäste nicht gerade begeistert sind. Immer wieder wird uns wehleidig über den aktuellen Kurs berichtet, doch meist unter vorgehaltener Hand. Manch einer nutzt die Begegnung mit uns gar als eine Art Therapiestunde, in welcher dem Frust im geschützten Raum des Autos ein Ventil geboten wird. Die freie Meinungsäußerung gilt schon längst nicht mehr als Selbstverständlichkeit. Auch wir fühlen uns dieser Freiheit teilweise beraubt, empfinden die für uns ungewohnte Einschränkung als bedrückend. Wir halten uns mit politischen Stellungsnahmen zurück, denn ganz befreien können wir uns von unserer Paranoia im Laufe der letzten Wochen nicht, verzichten gar darauf, in der ZDF-Mediathek Folgen der Böhmermann-Show zu gucken. Lieber ärgern wir uns im Stillen, wenn wir mal wieder nicht das zensierte Wikipedia aufrufen können oder, ohne zu widersprechen, einen ehemaligen Offizier der türkischen Armee die gesamte Palette der erdoganistischen Propaganda aufsagen hören. Umso erfrischender die Momente, in denen wir kritisch eingestellten Menschen begegnen, welche – zumindest gefühlt – stellvertretend auch unseren Unmut verbalisieren.

 

An manchen Tagen durchleben wir die kontroversesten Gefühle in so kurzen Abständen, dass es uns oft schwer fällt, unsere Gedanken zu ordnen. Beim Reisen passiert es schon mal, dass man, gerade eine Situation Revue passierend, sich schon in einer Neuen wiederfindet. Auf positive Erlebnisse können unmittelbar negative folgen und umgekehrt. Ein bezeichnendes Beispiel: Mitte Januar haben wir in Thessaloniki (Griechenland) erhebliche Probleme, an einem eisigen Vormittag aus der Stadt zu trampen, obwohl wir sogar ausnahmsweise den städtischen Bus genommen und anschließend noch ein gutes Stück zu Fuß bewältigt haben, um möglichst nah an die Autobahnauffahrt zu kommen. Nach einigen Stunden hält zu unserer großen Freude endlich ein Auto. Fünf Minuten später stellt sich während der Fahrt allerdings heraus, dass die Insassen doch in eine andere Richtung müssen und uns wegen ungünstiger Straßenführung ausgerechnet wieder an der Stelle herauslassen, wo wir bereits den ganzen Vormittag standen. Leicht verzweifelt entscheiden wir uns schließlich für die etwas riskantere Methode und gehen über die Auffahrt auf die Autobahn zu, um mehr potentielle Fahrer anzutreffen. Noch während wir durch die Kälte traben, hält bereits ein weiteres Auto. Wir steigen ein. Die gute Frau fährt jedoch entgegen unserer Erwartung bald schon auf die parallele Landstraße ab, um die Mautgebühren zu umgehen. Wir nehmen es zähneknirschend hin, da wir jetzt zwar von Dorf zu Dorf trampen müssen, wir aber einfach nur froh sind, endlich voranzukommen. Nach fünf weiteren Fahrern und insgesamt gerade einmal 150 Kilometern schaffen wir es somit doch noch am späten Nachmittag nach Kavala, unserem geplanten Tagesziel. Wir klappern eine Handvoll Hotels ab, doch übersteigen diese allesamt unsere finanziellen Vorstellungen. In einem Café fragen wir nach WLAN und entdecken eine günstige Unterkunft am Rande der Stadt. Blöd, dass wir mitten im Zentrum sind. Also laufen wir mit unseren Rucksäcken ein paar Kilometer weit, wollen durch ein Wohngebiet abkürzen, das allerdings auf einem sehr steilen Hügel liegt. Unser wahnwitziger Versuch veranlasst eine liebe Kleinfamilie uns kurzerhand zu unserem Billighotel zu fahren. Mittlerweile ist es dunkel. Rezeption, tote Hose. Alle Lichter aus. Bei der gegenüberliegenden Tankstelle fragen wir, ob wir telefonieren dürfen, denn unsere Mobil-Verträge haben wir bereits in Deutschland gekündigt und nutzen unsere Handys lediglich mit WLAN. Wir erreichen das Personal, 20 Minuten später ist jemand vor Ort. Das Zimmer ist sauber und geräumig und wir super glücklich, mit diesem Tag abschließen zu können. Während Simon versucht, aus der Heizung schlau zu werden, die einfach nicht funktionieren will, und ich schon unseren Kocher aufbaue, fällt plötzlich der Strom aus. Nach fünf Minuten geht er wieder an. Nach weiteren fünf Minuten wieder aus. Irgendwann wird klar, dass das den ganzen Abend so gehen würde. Der Typ vom Hotel ist natürlich längst wieder über alle Berge. Also zurück zur Tankstelle und die Chefin erneut anrufen. Als wir ihr von den Ereignissen und Problemen berichten, reagiert sie leider auf eine sehr unprofessionelle und gereizte Art. Nach einigem Hin und Her verspricht sie endlich, einen Handwerker aufzutreiben, am Sonntagabend. Dieser ist dann zwar überraschend schnell zur Stelle, findet jedoch keine Lösung für das Problem. Unser Bauchgefühl sagt uns, hier keine Zeit mehr zu verlieren. Irgendwann kreuzt schließlich auch der Typ vom Check-In auf und wir verlangen unser Geld zurück. Da es in der Nähe keine weiteren Unterkünfte gibt, machen wir uns auf den langen Weg zurück ins Zentrum. In einem altbackenen Hotel, bei welchem wir bereits Stunden zuvor nach dem Preis gefragt hatten, empfindet der Rezeptionist offenbar so viel Mitleid für uns, da wir in der Zwischenzeit immer noch nichts gescheites gefunden haben, dass er uns einen Extrarabatt genehmigt. Glücklich, endlich ein bezahlbares Dach überm Kopf zu haben, kochen wir uns noch schnell ein paar Nudeln, bevor wir erschöpft einschlafen.

Diese Achterbahn der Gefühle führt dazu, dass man auf lange Sicht mit ungewohnten, vielleicht auch unangenehmen Situationen gelassener umgehen und das Unbekannte einen enorm zum Nachdenken anregen kann. Es beginnt ein Prozess des infrage Stellens eigener Handlungsmuster. Für mich ist dies einer der Aspekte, die den „losgelöst“-Status ausmachen. Für neue Impulse empfänglich zu sein, da man sich von Vertrautem und Routiniertem getrennt hat. Zuhause bin ich Teil einer mir geläufigen Gesellschaft, mit deren Regeln und Werten ich aufgewachsen bin. Ich habe meine Persönlichkeit entwickelt, habe herausgefunden, was mir wichtig ist und mich mit der Frage beschäftigt, wie ich leben möchte. Mit Ende Zwanzig und einem abgeschlossenen Studium scheint der zukünftige Weg, das nächstliegende Szenario offensichtlich. Doch es ist auch ein Moment der Möglichkeiten, ein Moment der Weichenstellung. Nach einer Ausbildung, einem Umzug, einer Trennung, einem Jobwechsel … es sind Situationen wie diese,  in denen man auf ungewohnt bequeme Art in die Position der Entscheidungsvielfalt gelangt. Indessen scheint es weitaus schwieriger, eine laufende Phase zu unterbrechen, innezuhalten und zu reflektieren, ob man mit seiner eingeschlagenen Richtung glücklich oder, wie meine Oma sagen würde, zufrieden ist.  Mit dieser Reise haben wir uns zunächst von unseren bisherigen persönlichen Entwicklungen entkoppelt. Wenn man sich aus seinem vertrauten Umfeld entfernt, selbst fremd wird, so beginnt man wieder bewusster zu lernen. Lernen im Sinne eines kindlichen Lernens, denn das vertraute gesellschaftliche Regelwerk gilt nicht mehr, sodass routiniertes Verhalten nicht mehr ausgelebt werden kann. Genau hier beginnt das Hinterfragen des bisherigen Ichs. Manch einem kommt dabei vielleicht die Assoziation eines Selbstfindungstrips in den Sinn, doch darauf möchte ich diese Reise zum einen nicht reduzieren. Zum anderen verstehe ich den beschriebenen Prozess nicht als Findung, denn das setzt das Suchen voraus, sondern vielmehr als Chance zu eben jenem bewussten Lernen und Begreifen, welches ich als bedeutende Bereicherung empfinde.  

Selcuk bei der Arbeit
Selcuk bei der Arbeit

So beginnt denn unsere Zeit in der Türkei auch gleich mit einer Phase vieler neuer Erfahrungen, indem wir für zwei Wochen im Zuge eines Workaway-Projekts auf einem Permakulturhof aushelfen.  Unser Gastgeber Selcuk hat vor einigen Jahren seinen Job als Vertreter eines Pharmakonzerns aufgegeben und sich mit dem Hof nahe Istanbul seinen Lebenstraum erfüllt. Neben Obst und Gemüse verkauft er unter anderem Olivenöl, Seife, Brot, Saatgut und diverse Essigsorten, alles aus eigener Produktion. Als Pionier der türkischen Permakultur-Szene hat er sogar schon so manches Fernsehinterview gegeben, bei welchen er für ein Umdenken in der hiesigen Landwirtschaft wirbt, die vorrangig von zahllosen industriellen Großplantagen mit monokulturellem Anbau geprägt ist. Später werden wir auf unserer Route entlang der Mittelmeerküste Zeuge dieser schier endlosen Anreihung von Gewächshäusern, die so manches schönes Landschaftsbild trübselig aussehen lässt. Zwar erhalten wir während unseres Aufenthalts bei Selcuk Einblick in die Herstellung seiner Produkte, doch wird von uns vor allem grobe körperliche Arbeit abverlangt. Wir helfen zwei Handwerkern beim Errichten eines Neubaus, mischen Zement, sammeln große Steine für die Mauern, verteilen Kies auf der matschigen Einfahrt, schlagen Feuerholz und räumen die Depots für Werkzeuge und Waren auf. Tatsächlich übersteigt die reale Arbeitszeit deutlich das durchschnittliche Maß für Freiwilligenarbeit und würden wir uns nicht so gut mit unserem herzlichen und humorvollen Gastgeber verstehen, der selber wie eine Maschine mit anpackt, man käme sich etwas ausgenutzt vor. Sein Enthusiasmus steckt in jedem Fall an und für gute Stimmung sorgen auch die köstlichen Gerichte seiner Mutter nach traditionell türkischer Art.

Während wir hier unseren ersten und einzigen Schnee dieses Winters erleben, sehnen wir uns bereits nach dem warmen Süden. Dort angekommen werden wir irgendwo an der südwestlichen Küste von einem liebenswürdigen Brummi-Fahrer aufgegabelt. Nachdem wir uns zwei Stunden mit ein paar Brocken Englisch und Türkisch sowie Händen und Füßen fröhlich unterhalten haben, lädt er uns am Ende der Fahrt auf einen Tee ein, nimmt Zettel und Stift zur Hand und beginnt zu schreiben. Er steckt uns den kleinen Brief zu und gibt uns zu verstehen, seine Worte bei nächster Gelegenheit von jemandem übersetzen zu lassen. Wir zücken einen Sticker mit unserer Blogadresse und schlagen ihm vor, selbiges zu tun, damit er sich ein besseres Bild von uns machen kann. Als wir ein paar Tage darauf das übersetzte Ergebnis von Freunden geschickt bekommen, wird uns ganz warm ums Herz:

 

„Liebe Kinder, Ihr werdet in Eurem Leben so einen Moment nicht mehr erleben, zumindest nicht mit mir. Ihr werdet mich nicht mehr sehen. Ihr seid als unsere Gäste hier. Wir denken so als Nation. Ein alter Mann kann all seine Gedanken nicht zu Wort bringen, aber ich mag Euch sehr. Macht’s gut und nehmt unsere Liebe und guten Wünsche mit Euch. Auf Wiedersehen. Ibrahim“ 

 

In einem kleinen Ferienort namens Dalyan können wir, nach vielen kalten Wochen, endlich die neue Zeltsaison eröffnen. Wir sind wieder in unserem Element, genießen die Ruhe der Nebensaison, in der vieles noch nicht so aufgesetzt wirkt wie zu Zeiten touristischen Hochbetriebs. Dass die meisten Cafes, Restaurants und Unterkünfte noch geschlossen haben, zieht sich wie ein roter Faden entlang unserer Küstenroute und begünstigt so manche Zeltplatzsuche. Besonders beeindruckend ist der Abschnitt zwischen den beiden Städten Fethiye und Antalya, welche durch den sogenannten lykischen Weg, dem ersten Fernwanderweg der Türkei, verbunden sind. Wir probieren uns an einer der leichteren Tagesetappen und sind sofort begeistert. Uns gefallen die Abgeschiedenheit und die atemberaubende Landschaft so gut, dass wir, kaum in Antalya angekommen, gleich wieder 200 Kilometer zurück nach Fethiye trampen, um ein paar weitere Etappen zu bewandern. An einem frühen Abend erreichen wir Kayaköy, die sogenannte Geisterstadt, deren imposante Ruinen wir bereits zwei Wochen zuvor besichtigt haben. Bis Anfang der 1920er lebten in diesem Dorf Griechen, die jedoch nach dem griechisch-türkischen Bürgerkrieg im Zuge eines grotesken Bevölkerungsaustauschs zwangsumgesiedelt wurden. Tausenden in der Türkei friedlich lebenden Griechen und noch einmal so vielen in Griechenland friedlich lebenden Türken erzählte man, dass sie praktisch von heute auf morgen ihre lieb gewonnene Heimat verlassen müssten und von nun an in jenem Land leben sollten, aus dem sie ursprünglich stammten. Wir lassen diesen Ort mit seiner bewegenden Atmosphäre hinter uns und wandern noch einige wenige Kilometer in den Wald hinein. Leider hängen uns die Gewitterwolken im Nacken. Als die Nacht hereinbricht und uns immer wieder Regenschauer und gelegentlicher Donner erwischen, haben wir immer noch keinen geeigneten Zeltplatz gefunden. „Ich bin überrascht, wie gut man mit unseren Billo-Stirnlampen im Dunkeln wandern kann.“, kommentiert Simon in dem Versuch, die zermürbende Stimmung etwas zu erhellen. Doch das gelingt nur bedingt. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, direkt oder indirekt vom Blitz getroffen zu werden, verschwindend gering sein mag, flößt uns Beiden dieses eigentlich ja aufregende Naturspektakel immer wieder einen Heidenrespekt ein. Endlich finden wir eine kleine freie Fläche, die einen recht blitzsicheren Eindruck macht. Nachdem das Zelt aufgebaut ist und wir uns ins halbwegs Trockene flüchten, verputzen wir mit Resten vom Mittag ein zwar kaltes, aber aufmunterndes Abendessen. 

Die folgenden Tage genießen wir sommerliche Temperaturen und bewandern hier und da Abschnitte des insgesamt 500 Kilometer langen Fußwegs. Ohne den Anspruch, Strecke machen zu müssen, wissen wir es zu schätzen, an besonders schönen Orten auch schon mal mehrere Zeltnächte zu verweilen. Wir verbringen solche Tage dann mit kleineren Erkundungen der Umgebung, besorgen Wasser und Feuerholz, schreiben Tagebuch oder lassen beim Nichtstun die Gedanken schweifen. Die Euphorie ist groß, als wir das erste Mal auf Reise über Feuerglut kochen (ein Procedere, welches mittlerweile Standard geworden ist, wenn es denn Zeit und Ort zulassen). Das bereitet nicht nur große Freude, sondern schont nebenbei die Nutzung teurer Gaskartuschen. Von diesem Erfolgserlebnis angespornt decken wir uns gleich mit ein paar Backzutaten ein und zelebrieren unsere neue Technik mit der Zubereitung von Stockbrot und Pfannkuchen. Meistens sind wir an den entlegenen Plätzen ungestört und wenn doch mal Gesellschaft aufkreuzt, sorgt der überraschende Besuch für willkommene Abwechslung, seien es ein älteres türkisches Ehepaar auf Kräutersuche, ein paar junge deutsche Wanderlustige, eine streunende Hündin mit ihren neun knuffigen Hundebabys oder die vielen ulkigen Schildkröten, die oft durch die naheliegenden Gebüsche tapsen. 

Schließlich biegen wir von der Küste ins anatolische Hochland ab und verlassen damit endgültig das Mittelmeer, welches uns während der letzten sechs Monate immer wieder begleitet hat. Der Tapetenwechsel lohnt sich. Bereits nach wenigen Kilometern ins Landesinnere offenbaren sich völlig andere Landschaftsbilder. Fruchtbare Täler wechseln sich bald mit weiten, trockenen Steppen und vulkanischem Gelände ab. Die mit Abstand fantastischste Szenerie erwartet uns jedoch im berühmten Kappadokien, wo einzigartige Felsformationen und in Tuffstein ausgehöhlte Behausungen, die zum Teil über 6000 Jahre alt sind, einen unvergesslichen Anblick bieten. Hier haben wir das Glück, für zwei Wochen bei einem weiteren Workaway-Projekt auszuhelfen und dadurch die wunderschöne Region besser kennenzulernen. Dieses Mal arbeiten wir für Lilian und Galip, einem sehr sympathischen Töpfermeister-Ehepaar, das in ihrer großen Werkstatt eine riesige Auswahl an kunstvollen Töpferwaren anbietet und sogar Touren für Touristen durchführt, bei denen man allerhand über die Geschichte und den Herstellungsprozess des für diese Gegend berüchtigten Handwerks erfährt. Das Geschäft läuft gut und wird nicht zuletzt durch zwei Einträge ins Guinness-Buch der Rekorde angekurbelt, von denen sich einer auf Galips Haar-Museum bezieht, welches einst zu den kuriosesten Museen der Welt gekürt wurde. Allerdings bedauern unsere Gastgeber auch zunehmend den strukturellen Wandel des Tourismus. Haben die Beiden bis vor wenigen Jahren noch häufig mehrtägige Töpferworkshops in kleineren Gruppen gegeben, werden heute Massen von Urlaubern in Reisebussen angekarrt, die hier maximal eine Stunde Zeit verbringen, bevor es für sie weiter zur Jeep-Safari oder Quad-Tour geht. Wir können ihren Wehmut gut verstehen und doch hat die Situation für uns ironischerweise einen entscheidenden Vorteil, da wir die vielen Wanderwege in der Umgebung mangels Interesse Anderer quasi für uns allein haben. 

In Tuffstein gehauene Kirche in Kappadokien
In Tuffstein gehauene Kirche in Kappadokien

Von einigen wenigen Arbeitstagen abgesehen, bei denen wir die vielen Ausstellungsgegenstände in der Werkstatt abstauben, halten wir uns die meiste Zeit über im idyllischen Haus unserer Gastgeber auf und erledigen diverse Haushaltsaufgaben. Wir können uns unsere Arbeitszeiten selbstständig einteilen und genießen in unserer Freizeit sowohl Ausflüge als auch gemütliche Stunden zu Hause, in denen wir uns in der gut ausgestatteten Küche austoben, mit den süßen Hunden und Katzen spielen oder an diesem Blogartikel schreiben. Wir fühlen uns pudelwohl und können uns das erste Mal vorstellen, unseren Aufenthalt bei einem Projekt zu verlängern, doch die Vorfreude auf das Weiterkommen und das Land Georgien, welches schon vor Beginn der Reise zu unseren Lieblingszielen gezählt hat, ist einfach zu groß. Die vielen Monate in Griechenland und der Türkei waren ein Stück weit auch eine Geduldsprobe, ein saisonales Abwarten in möglichst warmen Gefilden, um nun, mit Frühlingsbeginn, im kaukasischen Hochland unbeschwerter reisen zu können. Mit ein bisschen Glück schaffen wir es ja vielleicht noch zu Ostern ins orthodoxe Nachbarland, wo das wichtigste Fest des Jahres sicherlich einen Besuch wert wäre. Vom zentralsten Punkt der Türkei aus erreichen wir in drei Tagen die georgische Grenze. Es ist Ostersonntag. Wir passieren zu Fuß, werden vom Grenzpersonal herzlich willkommen geheißen und müssen ganz schön schmunzeln, als wir erfahren, dass sich das orthodoxe Osterfest nach dem julianischen Kalender richtet und somit eine Woche später als das westliche Pendant stattfindet. Wir sind trotzdem glücklich, schon hier zu sein und freuen uns auf das neue Unbekannte.